INTERVIEW

TV: Sie begannen ihr Studium 1959 am Klaerschen Konservatorium, dem heutigen Hamburger Konservatorium. in welchen Fächern wurde man damals unterrichtet ?

HGL: Also im Wesentlichen die Fächer, die heute auch Bestandteil der Prüfungsordnung sind. Neben dem instrumentalen Hauptfach wurden Methodik, Satzlehre, Gehörbildung, Formenlehre, Musikgeschichte, Akkustik und Instrumentenkunde, etc………unterrichtet, und dann gab es dieses merkwürdige Fach namens Volksliedbegleitung, das bei meinem Abschluss nicht mehr gefordert wurde, aber wir wurden noch darauf vorbereitet. Eine ziemlich alberne Angelegenheit. Man übte dort ein Volkslied mit den harmonischen Hauptstufen und einem bekannten ‚Uffdada – Rhythmus‘ zu begleiten und versuchte dann das ganze mit Hilfe einer ‚genialen‘ Modulation oder einer Überleitung mit einem neuen Stück zu verbinden.

TV: Was wurde zu dieser Zeit als Moderne Musik bezeichnet?

HGL: Als modern wurden damals ausschliesslich Komponisten empfunden, deren musikalische Sprache sich der Atonalität zuwendete, d.h. natürlich Einflüsse der Neuen Wiener Schule, aber auch von Hindemith, Bartok, Stravinsky usw. erkennen liessen, wobei da auch wieder differenziert wurde zwischen Komponisten wie Carl Orff, der damals eine wichtige Rolle spielte und bsw. Schönberg. Orffs Musik sprach man zwar eine grosse Kraft zu, doch wurde ihr häufig der Vorwurf gemacht, etwas zu simpel zu sein. ( „Orff zahlt Stravinsky in kleiner Münze aus“ – Anm. d. Verf. )

TV: Und wie war es mit Hindemith? Galt die Musik Hindemiths damals nicht als eine Art Bindeglied zwischen Tradition und Moderne?

HGL: Ja, das stimmt. Für mich persönlich war Hindemith ein ‚Aha-Erlebnis‘, doch die Begeisterung hielt nicht lange an. Als ich seiner Musik begegnete, und als sie mir etwas bedeutete, war ich im Grunde ohne musikalische Vorbildung, und zur Annäherung kam es nur über die Intuition. Damals suchte ich nach einem Zugang zur Zeitgenössischen Musik, und irgendetwas in dieser Musik kam mir entgegen, etwas das mir vertraut war, etwas an dem ich mich festhalten konnte. Aber gerade diese Vertrautheit stellte mich nach einer Weile nicht mehr zufrieden und eröffnete mir keine deutlich neuen Wege.

TV: In welchem Umfang fand die Zeitgenössische Musik Eingang in den Instrumental – bzw. Theorieunterricht und wie ging man mit ihr um?

HGL: Im Theorieunterricht tauchte diese Musik, ähnlich wie heutzutage, so gut wie nicht und im Instrumentalunterricht nur notgedrungen auf, weil mindestens ein modernes Stück als Pflicht für die Abschlussprüfung vorgesehen war. Man muss sich allerdings eines klarmachen: Das Ende des Zweiten Weltkrieges lag noch nicht allzu lange zurück und hatte die kulturelle Entwicklung enorm behindert. Die Lehrer selbst mussten erst wieder künstlerische Anknüpfpunkte finden und waren dementsprechend vorsichtig in Bezug auf die Auswahl ihres Unterrichtsstoffes, so dass man Stücke als ‚zeitgenössisch‘ bezeichnete, die in Wirklichkeit vor der Zeit der Machtergreifung durch die Nazis komponiert wurden. Allerdings konnte man bei den meisten Konzertaufführungen mindestens ein modernes Stück hören, da sich der Kulturbetrieb damals, so wie mir scheint, stärker für die Förderung der Zeitgenössischen Musik verantwortlich fühlte, als dies im Moment der Fall ist und ausserdem eine gewisse Aufbruchsstimmung herrschte. Zu dieser Zeit gab es eine Szene, die aus verschiedenen Gesellschaften und Vereinen bestand, die sich für die Beachtung Neuer Musik einsetzte. Was für die einen Herausforderung, war für viele andere aber auch Streitpunkt! so konnte diese Musik immerhin noch Auseinandersetzungen zwischen Kollegen oder Orchestermusikern provozieren. Ich denke, im Grunde bleibt der grosse Kulturbetrieb von solchen Streitigkeiten heutzutage eher unberührt!

TV: Welche Komponisten wurden damals eher gemieden?

HGL: Hmm! Also ein ziemlich ’schwarzes Schaf‘ war von vornherein Stockhausen, dann Namen wie Boulez, Nono…- etwas später Maurizio Kagel, Lachenmann…..die galten so als ‚Die Radikalen‘.

TV: Wie verhielt man sich damals zu diesen Herren, als Student der gut abschneiden wollte?

HGL: Man hat nicht viel über sie geredet, so wie man das über unanständige Dinge eben auch nicht tut!!! Man hielt sie für wenig hilfreich diese Herren! (schmunzelnd)

TV: Kommen wir zu ihrem Kompositionsstudium bei Philipp Jarnach, 1962, an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater. Wie sah der Unterricht bei einem so erfahrenen und bekannten Lehrer aus?

HGL: Als Erstes versuchte er mein Wissen auf dem Gebiet der traditionellen Harmonielehre zu ermitteln, indem er mich eine Arbeit, ähnlich einem Kompendium, schreiben ließ. Dem folgten Konrapunktübungen, die alle an der Fuge orientiert waren. Endlose Fugenexpositionen, einschliesslich erstem Zwischenspiel vergingen, bis er dann eines Tages sagte: “ Nun schreiben sie mal so, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.!“ Allerdings wurden meine Kompositionen danach nicht zum Unterrichtsschwerpunkt, sondern die meiste Zeit verbrachten wir durchweg mit dem Studium von klassischen Partituren an denen er mir alles zeigte, was ihm wichtig war. Philipp Jarnach hat nie zeitgenössische Musik unterrichtet, sondern hat schulen wollen anhand der klassischen Vorbilder, und dabei lagen ihm besonders formale Dinge am Herzen.

TV: Kommt daher ihre Leidenschaft für die musikalische Formenlehre?

HGL: Nein. Das glaube ich nicht. Dieser Bezug zur Formenlehre oder zur Musiktheorie generell kommt wohl aus einer tieferen Quelle, nämlich einem Gefühl, das mich die ganze Zeit vor und auch während meines Studiums begleitete: das ungute Gefühl auf die Arbeit mit Musik nicht vorbereitet zu sein. Ich habe mir damals häufig gewünscht, ich hätte als Kind eine solidere instrumentale und die dazugehörige theoretische (Aus)bildung erhalten.

TV: Wann haben sie mit dem Klavierspiel begonnen bzw. sich für das Studium entschlossen?

HGL: Klavier gespielt habe ich zuhause eigentlich so weit ich zurückdenken kann. Dabei handelte es sich allerdings um reines Improvisieren. Dafür aber fast jeden Tag. Meine mutter hat mir einige Klavierstunden gegeben, als ich ungefähr sieben war. Aber aus weiterem Unterricht wurde dann nichts, da ich zum Üben keine Lust hatte und das Improvisieren wesentlich faszinierender für mich war. Erst später habe ich versucht, mir anhand einer Harmoniumschule, die ich mir geborgt hatte, das Notenlesen beizubringen. Da ich nach Beendigung der Schulzeit weder umfangreiche musikalische Bildung, noch ein Instrument, geschweige denn Geld besass, musste ich als Erstes einmal einen ‚bürgerlichen Beruf‘ erlernen. Ich entschied mich für Industriekaufmann, aber in dieser Zeit wuchs der Wunsch Musik zu studieren besonders ( Kann der Verfasser sehr gut verstehen ) und so nahm ich dann auch, mit meinem ersten Angestelltengehalt, den ersten Klavierunterrichtet, der diesen Namen verdiente. Nach einem Jahr musste ich beruflich nach Hamburg wechseln, und dort hing ich wieder eine Weile in der Luft, bis ich mich schliesslich dazu entschied erneut bei einem lehrer, diesmal am Klaerschen Konservatorium, Unterricht zu nehmen. Diesem Lehrer (Peter Hartmann) schilderte ich sofort meine Ambitionen und meine “ miese “ Vergangenheit, worauf er dann sagte: „Wir werden sehen, was wir mit ihnen machen können!“ 1959 wurde ich dann, zur Probe, an das Klaersche Konservatorium aufgenommen.

TV: Ich würde gerne noch einmal kurz zu Philipp Jarnach zurückkommen. Wie würden sie ihn beschreiben?

HGL: Als einen klaren und direkten Menschen, sehr gebildet und natürlich mit viel Erfahrung. Das geht auch aus seiner Biographie hervor. Erst als pianistisches Wunderkind gefeiert, dann Student von Busoni, später ging er als jüngster Professor in Europa an die Hochschule in Berlin und war dort mit u.a. Schönberg und Hindemith zusammen. Seine zahllosen Schilderungen von Begegnungen und Gesprächen mit diesen Menschen machten seinen Unterricht zu einem Erlebnis für mich, ausserdem die Tatsache einem Menschen gegenüber zu sitzen, der die Entwicklungsgeschichte der Modernen Musik so hautnah miterlebt hatte.

TV: Was haben sie besonders an ihm geschätzt?

HGL: Besonders geschätzt an ihm habe ich den Scharfblick mit dem er meine Kompositionsbemühungen begleitete. Es kam vor, dass ich die Nacht durch an einem Stück geschrieben hatte, nur um ihm am nächsten Morgen irgendetwas vorlegen zu können und das, obwohl mir das Nachtarbeiten wirklich schwer gefallen ist!!! In der Unterrichtsstunde am nächsten Tag blätterte er die fertigen Seiten dann durch, um schliesslich ganz trocken anzumerken: “ Das können sie in den Papierkorb werfen! “ oder “ Was sie an dieser Stelle wollen, drücken sie völlig falsch aus! “ ohne Übertreibung möchte ich sagen, dass es immer die Stellen waren, die auch meinem Empfinden nach Schwachpunkte gewesen sind. Er hat bei seinen Beschreibungen wenig Fremdworte benutzt, aber sein Lieblingsbegriff hieß „Timing“ und zwar weil es, wie er sagte, kein gleichwertiges deutsches Wort für diesen Begriff gab. Er meinte damit das Gefühl für die Zeit, die eine musikalische Idee bzw. die Einheit von Form und Inhalt benötigt, um sich zu äussern. Es ging ihm sehr um die Sensibilisierung für eben dieses “ Timing „.

TV: Das alles klingt, als ob sie ihren Lehrer in seiner Autorität voll und ganz akzeptiert hätten!!!???

HGL: Das habe ich!!!

TV: Hmm! Das war ja jetzt kurz und bündig! Kommen wir zur damaligen Situation. Welchen Zwängen unterlag man als junger angehender Komponist in dieser Zeit?

HGL: Ich weiss gar nicht, ob man Zwängen unterlag!

TV: Ich meine natürlich, wenn man im Sinn hatte aufgeführt zu werden und die Freiheit, ihnen das zu unterstellen, nehme ich mir jetzt einfach einmal.(schmunzelnd)

HGL: Ich glaube, da war ich relativ hemmungslos und habe viel ausprobiert. Natürlich habe ich dann häufiger bei Aufführungen das Gefühl gehabt über das Ziel, das ich mir gesetzt hatte, hinausgeschossen zu sein. Aber beim Schreiben stimmte es eben und kam von Herzen.

TV: Haben sie sich damals mit elektronischer Musik beschäftigt?

HGL: Nicht wirklich intensiv. Mit Ausnahme einer Aufnahme von Henk Baadings, einem Holländer……… Ich glaube es war eine Suite, die mir sehr faszinierend erschien, die später Eingang in meinen Formenlehreunterricht fand und zu einem Teil den Anstoss zu einer Improvisationsgruppe gab, die aus Studenten bestand und für ca. zwei Jahre ausserhalb des regulären Unterrichts stattfand und unter anderem zu der entstehung des Buches (Zugang zur Musik der Gegenwart – Anm. d. Verf.) beigetragen hat. Ansonsten blieb mir die elektronische Musik, erstens aus mangelndem technischen Verständnis, aber auch von ästhetischer Seite her, eher fremd.

TV: Hat die Zwölfton- bzw die serielle Musik Einfluss auf sie ausgeübt?

HGL: Ja, die Zwölftonmusik war schon ein grosser Einfluss, während ihre konsequente Fortsetzung, die serielle Musik, Ergebnisse aufwies, die mich zu stark an aleatorische Experimente erinnerte, und das passte mir nicht. Mir gefällt an dieser Musik, dass es Strukturelemente gibt, die den Komponisten zwingen seine Fantasie zu bändigen und er so nicht dieser scheinbaren Grenzenlosigkeit ausgeliefert ist.

TV: Was glauben sie war für so viele junge Komponisten so reizvoll an der seriellen Musik?

HGL: Sachlichkeit und der Wunsch nach etwas Erklärbarem. Nach dieser perfiden Emotionsschwämme des Dritten Reiches gab es einfach das Verlangen nach einer ganz gereinigten, wissenschaftlich-klaren Luft, und die serielle Musik hat diesen Anspruch natürlich theoretisch erfüllt.

TV: In ihrem Buch Zugang zur Musik der Gegenwart schildern sie Beobachtungen, Untersuchungen und Erfahrungen, die sie bei ihrer Auseinandersetzung mit der Musik des 20. Jahrhunderts gemacht haben. Was hat sie dazu motiviert dieses Buch zu schreiben?

HGL: Es ist ein Grundzug meines Wesens, dass eine starke emotionale, in diesem Fall musikalische Erfahrung, mich praktisch dazu zwingt ihren Sinn erkunden zu wollen und ich denke es war an der Zeit für mich, diesem umfangreichen Thema ein Stück weit entgegenzutreten.

TV: Häufig sagt man Musik- und Kunsttheoretikern nach ‚Erbsenzähler‘ zu sein und/oder es wird behauptet, dass ihre Arbeit den emotionalen Anteil des Komponierens / Interpretierens unterbewertet bzw. zu isoliert betrachtet. Was sagen sie dazu?

HGL: Ich denke, dass auch emotionsbezogene Themengebiete wie Musik oder beispielsweise Religion es verkraften müssen, wenn man sie mit allen Mitteln des Intellekts und der inneren Aufrichtigkeit hinterfragt.

TV: Aber kommen sie dadurch näher an eine Erfahrung heran?

HGL: Das sind zwei Seiten, ähnlich den beiden Gehirnhälften oder um es so zu sagen: „Ich muss das Mädchen einladen, muss mit ihr reden, muss wissen woher sie kommt, wie sie denkt und wie sie fühlt. Einfach weil sie mir das wert ist!!!“

TV: Vielen Dank für das Gespräch.