EINE GESCHICHTE
Ein Ton war einsam geworden. Er hatte die Verbindung zu allen anderen, wohl auch zu sich selbst verloren.
Es gibt eine Menge solcher Töne, und keiner weiß so recht woher sie eigentlich kommen. Einige sagen, dass sie beim lieblosen Üben verlorengehen, sich beim Improvisieren davonstehlen oder als sogenannte ‚falsche‘ Töne nach Konzerten übrigbleiben. Es gibt auch eine Theorie über ihre Herkunft entweder aus Alltagsgeräuschen oder durch das Vernichten alter Noten und Musikinstrumente.
Ist aber ein Ton in diesen unseligen Zustand geraten, dann materialisiert er sich und wird sichtbar. Als kleine matt-schimmernd schwebende Kugel kann ihn jeder sehen; vorausgesetzt er liebt Musik und gibt sich ein wenig Mühe.
So hätte denn diese kleine Erzählung auch mit dem Satz beginnen können: Ein Ton war sichtbar geworden. –
Nun kommt ein Theoretiker daher. Den fragt der Ton: „Kannst Du mir sagen wer ich bin?“ Der lässt sich Zeit. Wie alle Theoretiker, hat er es gern, gefragt zu werden. Aber natürlich möchte er auch erschöpfend antworten. „Du bist ein eingestrichenes cis!“ – „Aha,“ sagt das eingestrichene cis verständnislos, „ein eingestrichenes cis.“ – „Jawohl,“ fährt der Theoretiker fort, „und Du könntest Grundton in Cis-Dur oder cis-moll sein, oder Leitton von D-Dur oder d-moll. In letzterem Fall läge harmonisches oder melodisches Moll zugrunde, man müßte Dich also als hochalteriert betrachten. Du könntest aber auch jeder beliebige andere Tonleiterton sein. Harmonisch gesehen könntest Du Bestandteil verschiedenster Akkordteile sein, also Grundton, Terz, Quinte, Septime oder None z.B. eines Dominantsept- oder Septnonenakkordes auf dis bzw. h, vorausgesetzt wir blieben im Bereich sogenannter tonaler Musik. Möglich wärst Du aber auch als Vorhalt, diatonischer oder chromatischer Durchgang, als Nebennote oder Vorausnahme. Theoretisch wäre sogar noch etwas ganz anderes möglich: Wenn man Dich nämlich enharmonisch zu des verwechselte, dann wärst Du auch denkbar als tiefalterierte Quinte eines übermäßigen Quintsextakkordes doppeldominantischer Funktion in F-Dur oder f-moll, das ist egal ….“ – „Vielen Dank“, sagte der Ton, völlig verwirrt und noch hilfloser als vorher, während der Theoretiker, von seinem fundamentalen Wissen tief beeindruckt, zielsicher und erhobenen Hauptes auf die nächste Fehlleistung zuschritt. –
Da naht ein Komponist.
„Verzeihung,“ sagt der Ton, „ich weiß nicht mehr wer ich bin!“ – Der Komponist fixiert ihn längere Zeit. Sein Blick ist etwas abwesend. Doch dann, plötzlich, mit einem kreativen Leuchten in den Augen: „Ein cis in Mittellage! – Ich setze es, sozusagen als Urgrund, Ur-sache, immanente Transzendenz zwei Oktaven tiefer in die Kontrabässe, pianissimo, con sordino, senza Vibrato, darüber, mit unhörbarem Einsatz, 14-fach geteilte Streicher im Abstand der natürlichen Obertöne, Tremolo, Crescendo aller Streicher, außer den Kontrabässen, bis Fortissimo, dann Pianissimo-Einsatz der Holzbläser im Sekundabstand c – d in der zweigestrichenen Oktave, während die Streicher wieder mit einem Decrescendo in`s Nichts verschwinden. Dann Erweiterung der Sekunde zum Halbtoncluster im Rahmen einer großen Septime. Ich nehme dazu am besten 6 Flöten, davon 2 Altflöten in g, 4 Klarinetten und …..“ – mehr hörte der Ton nicht, denn der Komponist war schon unterwegs zurück zu seinem Schreibtisch, sozusagen zurück in`s Eigene.
„Danke“, sagte der Ton wortlos tonlos und völlig überflüssig und ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein. Eine tiefer Trauer begann sich seiner zu bemächtigen und das Empfinden von grauer, kalter Hoffnungslosigkeit. Er schrumpfte so sehr zusammen, dass er schon fast wie ein zweigestrichenes cis aussah. –
Der Pianist war ein großer Meister und wie allen großen Meister, ständig mit Visionen letzgültiger Aussagen beschäftigt. Fast hätte er sich an dem einsamen Ton vorbeikonzentriert, wäre dieser nicht, zu allem entschlossen, direkt vor sein Gesicht, sozusagen vor sein Drittes Auge geschwebt. „Meister“, kämpfte er sich durch seine Verzweiflung, „ich weiß nicht….“ – Belästigt ruckte der Pianist mit dem Kopf zur Seite: „Du bist eine schwarze Taste, und man sollte Dich möglichst nicht mit dem 1. oder 5. Finger spielen!“ – Da verstummte der Ton endgültig und sein Schimmern erlosch, um im Gefühl grenzenloser Verlorenheit, trieb er ziellos davon, bis er irgendwo an irgendetwas hängen blieb.
Dort fand ihn ein Kind. Es war ein besonderes Kind, weil ihm alle Dinge gleich lieb waren. Es nahm den Ton behutsam in die Hand und hielt ihn an sein Ohr. Da fing der Ton an, ganz unbeschreiblich und wunderbar zu klingen. „Oh, ist das schön – “ sagte das Kind. Nach und nach aber, wurde der Klang immer leiser und ferner und als es nach einer Weile die Hand vorsichtig öffnete, war sie leer.